Marie Rodewald
An der Peripherie des Schnees
(eine Innenansicht)
Einakter in sieben Bildern
Personen
Anton
Lotte
Ort
An der Peripherie des Schnees
Ein Innenraum
Zeit
Heute
Erstes Bild
LOTTE:
Ich schaue auf dich und gewinne mich.
Gewinne:
dass wir in den Feldern streunten,
dass wir Zeit im Rückrad vergeudeten,
dass wir im Gewitter standen,
dass wir in Gefahren verschwanden,
um auf den Dachböden der Kindheit zu schwören,
dass, wenn wir groß sind einander betören, uns wie Schwäne nicht zu trennen und nie zu verkennen,
das Schicksal, das uns erfasst, wenn einer von uns das Leben verpasst einzugestehen des anderen Herz für seinen eigenen Schmerz,
sodass wir irgendwann rasten, auch wenn wir auseinander hasten.
Zweites Bild
Es ertönt Klaviermusik. Anton und Lotte treten auf. Die anfängliche Ernsthaftigkeit weicht einem spielerischem, fast kindlichem Gehabe.
Drittes Bild
Tragend für die Dialoge ist die empathische Beziehung zwischen Anton und Lotte.
ANTON: Erst wenn du dich ein wenig bewegst, bewegt sich der Eisengrund unter dir.
LOTTE: Jetzt stürzt du auf mich im Sturzflug.
ANTON: Bist du im Stande mir nichts zu geben als bloße Wortzermalmung?
LOTTE: Du selbst impfst dir die Wortzermalmung ein. Währenddessen fährt das Leben vorbei, so ein Leben das die Nacht beseelt mit dem Glorienschein einer Harley Davidson.
ANTON: Sie sagte ihm, geh nur deinen Weg, um zu vermeiden wie sich aus ihm ein Nichts herausschälen würde.
LOTTE: Es gibt in meinen Ohren ein Dröhnen. Ein Dröhnen von der Welt da draußen:
Das Stöhnen von tiefer gelegenen Stockwerken,
Das hell tönende Abschaben von Zeit und dem Klatschen von Zusammenbrüchen.
Ich lebe mit mir. Ich lebe mit mir und einem dröhnendem Zugang zu einem
nie stillschweigendem, stillstehendem, still bewährendem, still zuständigem, still haltendem, still fliehendem Außen.
ANTON: Du liebst mit deinem Herzen fremd und legst deinen schweren Leib auf meinem ab?
Ich bin in meiner Abhängigkeit zu dir verdorben worden!
Ich bin ein Mensch.
LOTTE: Danke, nächster Absatz.
LOTTE: Die Nacht schlägt selten zu hättest du sagen müssen um mich zu beruhigen. Du hättest aufzählen können: das Babygeplärre in der Tiefgarage, das ferne Auto mit dem ich in die Ferne reise, die grauen Lebensfeuer hinter verschmutzten Gardinen in versteckter Spitze gehüllt, das Schwirren eines Fernsehgerätes in einer unkenntlichen Sprache, das aneinander Schmusen von Lippen zweier Laternenenuntergestellten, der Krieg der in einem Osten herrscht, der uns nicht nahe ist und das beinah rettende Ding Dong eines Gottes, der in unzähligen Kathedrale wohnen soll, was mich total neutral stimmt.
Aber die Nacht würgst du ab und obwohl du küsst, trocknest du mir meinen Mund aus.
Du schlägst nicht zu.
Die Nacht schlägt nicht zu.
Ich schlage nicht zu.
Und in diesem langweiligen scheiß Dreiergespann haben wir uns nichts mitzuteilen. Wir haben unsere Sehnsucht eingetauscht. Aber für was?
ANTON: Ich liebe dich, Lotte.
LOTTE: Wenn dir nichts anderes einfällt. Absatz. Steuerung zum Ende.
Viertes Bild
LOTTE: Was aus dir kommt, macht mir Sorgen.
ANTON: Du bist zu dünnhäutig.
LOTTE: Komm mal her!
ANTON: Warum?
LOTTE: Komm her!
LOTTE: Komm bitte!
ANTON: Diese Träume…
LOTTE: Psst! Was bleibt uns sonst?
ANTON: Du irrst!
LOTTE: Psst!
ANTON: Du irrst!
LOTTE: Warum diese Träume?
ANTON: Frage!
LOTTE: Damit kann ich nichts anfangen!
ANTON: Dieser Klumpen im Brustkorb beschwert die Knochen.
LOTTE: Mein Bruder glaubt an einen Klumpen im Brustkorb, der die Knochen beschwert.
ANTON: Ich bin müde.
LOTTE: Weine nicht. Nein, weine!
ANTON: Geht das vorbei? Danke!
LOTTE: Einen Sommer lang warst du für mich schön. Ein Junge, den ich auf meinem Rücken spannte. Du hast gegen das Wasser geschrieen, dass du größer und länger sein wirst als wie es seine Kurven zieht. Dann hab ich dich am Ufer abgesetzt und du hast geweint, hast geweint um den verloren gegangen Glauben an dich.
Du bist aufgesprungen, ranntest in die Mitte des Flusses, kämpftest mit den Steinen die unter deinen Fußsohlen brannten, mit dem Wasser das sich in deinen Unterleib bohrte, mit dem Schweiß, vielleicht waren es auch Tränen, die die Luft schluckte und ich glaubte zu wissen, wer du bist, wer du in Zukunft sein wirst.
Fünftes Bild
ANTON: Gier dich endlich aus um frei zu sein von allem was dich drückt, zieht, verschiebt, besetzt,
verlieren lässt.
LOTTE: Die Worte sie rinnen den Rinnstein entlang und scheitern im Abfluss von fossilen Luftschlössern! Anton, ich wollte so gerne teilen, etwas von mir preisgeben. Hier vor dir stehe ich und bin das, was ich glaubte sein zu müssen. Du schaust mich an, wie jedes Mal, wenn ich anfange meine Wunden zu lecken, um mir einzubilden, ich behandle Wichtiges im Leben. Aber mir bleiben nur die Zufluchtsorte meiner Co-Existenz. Ich brauche eine Aufgabe, einen Job, eine Aussicht, ein Gegenüber, das mich greifen kann, das mich solange schüttelt bis die Architektur meines beknackten Alltags bricht. Was oder wer holt mich ab? Nichts! Das Nichts steht in Lottes Startlöchern. Ein Nichts, das mir die Träume stiehlt. Denn damit fängt es an. Damit, dass die Augen trüb werden. Damit, dass die Stimme leiser wird. Damit, dass das Herz verkalkt. Damit, dass der Atem vergilbt. Damit, dass der eigene Name verschwindet. Damit, dass man noch existiert ohne einen wesentlichen Anteil zu leisten.
Zustand innen: tot
Zustand außen: nicht der Rede wert.
Gibst du mir bitte das Wasser?
Gibst du mir bitte die fettarme Milch?
Kann ich deine Wäsche bügeln?
Darf ich dich um einen Gefallen bitten?
Möchtest du, dass ich für dich in die Stadt fahre?
Darf ich mit dir in einem Bett schlafen?
Ich geh jetzt in die Stadt!
Ich besorg mir eine andere Frau!
Ich besorge mir einen anderen Mann!
Ich besorge mir ein anders Ich!
Welche Marke soll ich für mein Handy nehmen?
Sag mir, dass ich gut aussehe!
Sag mir, dass ich dich anmache!
Die Mehrwertsteuer steigt, darf ich dir im Sommerschlussverkauf mein Leben anbieten!
Darf ich dich schlagen, prügeln, misshandeln um dann davon zu kommen?
Möchtest du, dass ihr dir ein Brot schmiere?
ANTON: Du nähst mir den Mund zu.
LOTTE: Liebe mich bevor es aufhört. Wende dich nicht ab. Du hast kein Recht dich abzuwenden.
ANTON: Es tut mir leid.
Klaviermusik
Sechstes Bild
ANTON: Der Fuß tut mir weh.
LOTTE: Weil du nicht mehr gehst!
ANTON: Hör auf oder ich breche dir das Bein.
LOTTE: Solange du denkst, wirst du nichts tun was mir oder dir schadet.
ANTON: Halts Maul!
LOTTE: Danke, dass du so ehrlich bist. Diese Schneelandschaft erinnert mich an dich.
ANTON: Warum?
LOTTE: Sie ist so schrecklich schön endlos.
ANTON: Du bist wie ein Hahn der schreit wenn der Morgen beginnt!
LOTTE: Danke.
ANTON: Hör auf danke zu sagen! Hör auf überhaupt etwas zu sagen!
LOTTE: Wenn ich etwas sagen dürfte, würde ich erzählen von den vielen Stunden an dem ich dich sah
und nichts bereute.
ANTON: Du hast mir das Pausenbrot auf dem Schulhof gestohlen!
LOTTE: Du hast mir die Lehrerin ausgespannt und bist mit ihr auf der Toilette verschwunden.
ANTON: Wir waren Kinder. Nein, wir sind Kinder! Niemals würde ich mit der Lehrerin in der Toilette
verschwinden ohne dir vorher Bescheid zu sagen.
LOTTE: Ist das wahr?
ANTON: Was ist Wahrheit? Die erkaufst du dir im Supermarkt und änderst sie zu deiner Wahrheit. Kratz mich mal!
LOTTE: Nein!
ANTON: Kratzen!
LOTTE: Nein! O.K. Ich kratze dich.
ANTON: Danke und weiter!
LOTTE: Kannst du eigentlich noch was anderes sagen?
ANTON: Es tut mir leid!
LOTTE: Du bist so wie ich.
ANTON: Danke. Es tut mir leid.
LOTTE: Irgendwann werde ich ans Meer mit einer Sektflasche fahren und mich an unsere Tage im Keller mit den Einweggläsern erinnern und an die Spinnen, denen wir die Beinchen rausrupften. Dann werde ich die Flasche leeren, hineinspucken, sie ins Meer werfen und hoffen, dass du sie findest.
ANTON: Damit könnte ich ertragen dich immer zu sehen.
LOTTE: Ja und ich hätte dir endlich deine ganzen Gemeinheiten verziehen.
ANTON: Bin krank geworden!
Ich träumte von einem Wald aus klarem Eis. Mein Brustkorb rührte sich über das Gehölz hinaus und ich fühlte das erste Mal, in der Zeit die mir gegeben ist, mein Herz klopfen.
Das Klopfen wurde lauter und lauter bis etwas in mir brach, wie ein Riss der sich durch den Körper schneidet. Plötzlich hielt ich einen roten Vogel in der Hand, der mich ansah, meine Augen aushackte bis es dunkel war. Ich schrie, Gott Lotte, wie ich schrie. Ich dachte, ich wäre blind, aber ich …sah, sah einen Raum, diesen Raum. Vor mir befindet sich eine dünne Glasschicht, dahinter sind Menschen, dahinter bist du.
Ihr beobachtet mich und in euren Augen spiegelt ihr meinen Körper, meinen Körper mit einem…Loch wo sich das Herz befindet.
LOTTE: Das darfst du nicht!
ANTON: Das hast du auch gesagt! Ich will nie wieder träumen!
Der Arzt sagt, ich müsste netter zu mir sein.
LOTTE: Ein intelligenter Arzt.
ANTON: Halts Maul!
LOTTE: Ich bin nett zu dir, du merkst es nur noch nicht.
ANTON: Hab dich gestern im Schlaf beobachtet und dir das Augenlid hochgezogen. Deine Pupille war so schwarz, dass du angefangen hast mich mit dieser anzuglotzen. Dann hast du dich gedreht und weil ich nicht dein Augenlid abrupfen wollte…
LOTTE: Sehr gnädig…
ANTON: …wollte, hab ich mich auf deinen Bauchnabel gelegt und deinem Glucksen zugehört. Immer wenn du ausgeatmet hast, machte es bubububububa und wenn du eingeatmet hast ging es babababababbu. Dann bist du aufgeschreckt und sagtest bubabubabuabuabuabuabua.
LOTTE: Du bist sehr rücksichtsvoll.
ANTON: Danke, ich liebe dich.
LOTTE: Ich liebe dich auch, vor allem jetzt wenn du mir sagst, dass du was als Mensch für mich empfindest.
ANTON: Du bist gerade nicht du, deshalb liebe ich dich.
LOTTE: Ich kann dich nicht mehr sehen, so voll bist du mit dir selbst.
ANTON: Scheiße, scheiße ich hab mich bekleckert. Das ist deine Schuld!
LOTTE: Schuld ist das was du daraus machst!
ANTON: Assoziationen stinken mich an!
LOTTE: Einmal an der Ostsee, ich weiß nicht wann, hab ich so´nen Nazibunker gesehen und hab an
dem Stein gelauscht…
ANTON: Und?
LOTTE: Und es war gar nicht so schlimm.
Du verheimlichst mir etwas…
ANTON: Das ist meine Sache!
LOTTE: Ich bin deine Schwester. Ich habe ein Recht zu wissen was du mir verheimlichst!
ANTON: Ich denke an dich.
LOTTE: Das ist nichts Besonderes.
ANTON: Das war mein Geheimnis. Jetzt ist es keins mehr.
LOTTE: Ich will nicht mehr warten.
ANTON: Du willst gar nichts. Du nörgelst dich zu Grunde.
LOTTE: Danke, dass reicht!
ANTON: Hast du eigentlich noch Erinnerungen?
LOTTE: Du meinst, rote Blasen im Kopf?
ANTON: Ich liebe dich, ich liebe dich…
LOTTE: Danke, dass reicht. Ja, ich habe noch Erinnerungen, die dich aber nichts angehen.
ANTON: Ich habe dir auch mein Geheimnis verraten!
LOTTE: Danke.
ANTON: Ich hab dir auch mein Geheimnis verraten!
LOTTE: Danke.
ANTON: Ich hab dir auch mein Geheimnis verraten!
LOTTE: Danke und weiter.
ANTON: Ich bin kein Produkt!
LOTTE: Danke und weiter.
ANTON: Ich bin ein Mensch!
LOTTE: Danke und weiter.
ANTON: Ich habe Gefühle!
LOTTE: Danke und weiter.
ANTON: Ich liebe dich!
LOTTE: Das will ich nicht mehr hören!
Siebtes Bild
Klaviermusik über das ganze siebte Bild
LOTTE:
An der Peripherie des Schnees steht ein Mann
- seine Glatze ist bügelglatt versteckt im Hut -
Aus dem Tanzlokal, aus dem er kam um zu trinken,
um zu winken der Frau hinterher…
die ihn nicht sehen wollte
- zu viele Stunden strichen an ihnen vorbei -
Er nahm das Salz in seinen Lachfalten wahr,
erschrak und ging, dem entgegen, der er nie war, stolperte über das Dunkel der Nacht, sodass er niemals erwacht zu blicken, um Träume zu schicken.
ANTON: Ich bleibe vor dir stehen und seh dich an und wundre mich wie man sich ändern kann.
LOTTE: Zu viele…
ANTON: Wechseln wir die Mittel, weil uns sonst zu wenig bleibt.
LOTTE: Was ist geblieben?
ANTON: Frage bitte nicht!
An solch klaustrophobische Themen, die mir den Klumpen…
LOTTE: Dein Klumpen…
ANTON: Ich brauche dich!
LOTTE: Und ich brauche dich.
ANTON: Deshalb sage Versöhnliches. Jetzt…
LOTTE: Warum Jetzt?
ANTON: Nein, nichts sagen!
LOTTE: Aber wie sollen wir…
ANTON: Wie sollen wir was?
LOTTE: Warum schnaufst du so, dass es mich fürchten lässt, dich nicht zu kennen!
ANTON: Ich weiß es nicht. Hör auf mich zu erforschen.
LOTTE: Das ist nicht meine Art. Ich sorge mich um dich.
ANTON: Du bist sanfter geworden.
LOTTE: Und du bist ferner.
ANTON: Das war ich immer und wird noch ferner wirken, wenn…
LOTTE: Wenn was?
ANTON: Wenn wir vergessen…
LOTTE: Was vergessen?
ANTON: Vergessen füreinander dar zu sein!
LOTTE: Das darfst du nicht sagen. Sicherlich verpassen wir es, dass wir uns vergessen.
ANTON: Wir tun es täglich. Wir waren Kinder im Herzen, sag es!
LOTTE: Wir sind Kinder im Herzen!
ANTON: Nein, das ist nicht mehr wahr.
Schrei mich nicht an. Komm, schrei, zieh mir endlich die Haut aus und nimm mich in den Arm. Ich kann nicht mehr in Worten sprechen, die sich anders anhören, als wie ich es gewohnt bin!
Du bist mein, dein, unser. Was bleibt uns, wenn wir nicht mehr…
LOTTE: Nicht mehr was?
ANTON: Nicht mehr Worte aneinanderknallen lassen, um uns zu verstehen.
LOTTE: Komm her, ich wärm dich.
ANTON: Das hast du noch nie gemacht.
LOTTE: Komm her, ohne Bedingungen.
ANTON: Du knöpfst mich auf?
LOTTE: Komm her, ohne Angst.
ANTON: Du streichelst mich?
LOTTE: Komm her, ohne Verlust!
ANTON: Du greifst in mich hinein?
LOTTE: Komm her, ohne Scharm!
ANTON: Was sind Jahre, wenn wir sie jetzt sprengen?
LOTTE: Komm her, ein letztes Mal.
ANTON: Was sind Augen, wenn sie anders sehen?
LOTTE: Komm her, bevor wir auseinander krachen!
ANTON: Was ist vertraut, wenn es fremd wirkt?
LOTTE: Komm her, weil ich dich brauch!
ANTON: Was wenn wir es tun?
LOTTE: Komm her weil du mich brauchst.
ANTON: Sind wir dann…
LOTTE: Komm her, weil ich mich brauch.
ANTON: Komm her, weil ich dich brauch!
LOTTE: Es ist ein Satz, der uns alles nehmen wird.
Mit dem letzten Akkord der Klaviermusik hört man einen Schuss. Anton fällt in Lottes Arme und gleitet an ihrem Körper hinunter.
Lotte steht dar, hält eine Pistole in der rechten Hand. Es vergehen ein paar Sekunden. Scharfer Black.